Der Ausdruck „Tanzkunst“ vereint die Begriffe „Tanz“ und „Kunst“. Was ist der Überschneidungsraum zwischen dem Tanz als sportliche Höchstleistung und der darstellenden Kunst? Was macht einen Balletttänzer zum Hochleistungssportler, was lässt ihn sich in der Magie der Inszenierung zu Hause fühlen?
„Seit über 70 Jahren rennt der Mensch an seine Geschwindigkeitsgrenzen heran. 1912 stellte der Amerikaner Donald Lippencolt den ersten Weltrekord über 100 m auf: 10,6 Sekunden. Am 3. Juli dieses Jahres lief Calvin Smith, ein graziler, 22 Jahre alter Student aus Alabama, die Strecke in 9,93 Sekunden“ (Prieser „Die Zeit“ 29.07.1983, zitiert nach 1, S. 65).
Balletttänzer – Künstler oder Sportler?
Durch das obige Zitat wird erkennbar, dass die körperliche Leistungsfähigkeit, sprich also die Kraft in ihren zahlreichen Facetten und andere motorische Eigenschaften, durch physikalische Größen erfasst werden können. Bei der tänzerischen Inszenierung werden jedoch nicht nur körperliche Erfahrungen verlangt, die sich ausschließlich durch physikalische oder trainingswissenschaftliche Parameter festlegen lassen, sondern auch Körpererfahrungen, die sehr stark durch die eigene Fantasie und Imagination geprägt werden. Erst durch diese Fähigkeit können anspruchsvolle Choreographien entstehen, die die Kunst aufleben lassen. Der Tänzer gibt der Darstellung einen symbolisch-sinnlichen Wert.
Allein durch diese Tatsache ist hier das Messen von definierten systematisch quantitativen Leistungen wie im Sport eher unmöglich. Bei einer Wertevergebung im Tanz werden deswegen umschreibende Adjektive, wie geschickt, zierlich, höflich, wohlgefällig usw. benutzt, die nur bedingt eine Objektivität in sich beherbergen. Auf der anderen Seite können erst eindeutige Richtlinien eine Quantifizierung und damit einen Einzug in die olympischen Disziplinen, wie das bei der Rhythmischen Sportgymnastik der Fall ist, möglich machen.(1)
Um die scheinbar schwerelose Beauté zu erreichen, ist es notwendig, den eigenen Körper nach der klassischen Tanztechnik oder anderen Tanzstilen so weit zu schulen, dass die getanzten Gefühle ohne ersichtliche Anstrengung inszeniert werden können. Denn die Konkurrenz in dieser Kunstform ist mindestens ebenso groß wie in anderen Sportarten und fordert maximale körperliche Leistung und treibenden Ehrgeiz.
Körperliche und geistige Voraussetzungen
Die konkreten körperlichen und geistigen Voraussetzungen für einen erfolgreichen Tänzer und somit das Fundament für einen Hochleistungssportler sehen folgendermaßen aus:
En dehors
Dies ist das Ausdrehvermögen des Beines aus der Hüfte. Dieses sehr spezifische körperliche
Merkmal eines klassischen Balletttänzers ist anatomisch festgelegt und kann nur bis zu einem gewissen Grad durch das Training beeinflusst werden, denn der Oberschenkelkopf wird durch eine knöcherne und eine recht geschlossene Kugelpfanne der Hüfte festgehalten. Das maximale Ausdrehausmaß der Hüfte beträgt 60°. Die übrige Differenz bis 90° wird aus dem Knie- und Sprunggelenk herangezogen. Das Ausdrehvermögen der Hüfte spiegelt sich bei unterschiedlichen und fest definierten Fußpositionen im klassischen Ballett wieder.
Physische Beanspruchung
Neben dem notwendigen Vorhandensein des übermäßig großen en dehors, ist eine weitere Forderung des täglichen Tanztrainings, immer an seinem Limit zu arbeiten und somit die körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern und die anspruchsvolle Koordination zu schulen. Die gleiche Tüchtigkeit findet man auch bei einem 100 m-Läufer, der sich oft körperlichen Schmerzen unterziehen muss, um besser zu werden.
Psychische Beanspruchung
Sowohl Profitänzer als auch andere Hochleistungssportler müssen in erster Linie ständig an der Perfektionierung ihrer Technik arbeiten, um das Leistungsniveau zu verbessern oder zumindest das bereits erreiche Leistungsniveau konstant zu halten.
Es ist allgemein bekannt, dass bei zahlreichen Sportarten, wie Ringen oder Kunstturnen, die Athleten in Gewichtsklassen unterschieden werden. Dieses Phänomen trifft man natürlich ebenfalls in der Tanzszene, besonders beim weiblichen klassischen Tanz. Die Tänzerinnen sollten relativ wenig wiegen, jedoch in der Lage sein, die von ihnen geforderte körperliche Leistung zu erbringen.
Zusätzlich zu den bereits aufgeführten Faktoren werden der Konkurrenzkampf und der Leistungsdruck als ein weiterer psychischer Aspekt betrachtet. Es ist jedoch vom Charakter jedes einzelnen Individuums und der Stresstoleranzschwelle abhängig, inwieweit das Konkurrenzdenken als ein leistungsmotivierender oder als ein stressgebender Faktor empfunden wird. Im Allgemeinen sollten aber der Athlet und der Tänzer in der Lage sein, mit dem Leistungsdruck umgehen zu können.
Künstlerische Voraussetzungen
Die künstlerischen Voraussetzungen eines erfolgreichen Tänzers werden dagegen erst mit dem Alter erworben und basieren auf Erfahrungen.
– Je mehr Bewegungserfahrung ein Tänzer hat, desto unterschiedlichere Bewegungsstile und Bewegungsqualitäten kann er darstellen und sich somit bestens seiner Rolle anpassen.
– Die Vielfalt der Körpersprache meint das bewusste Durchbrechen des einen Tanzstils und das Geben der individuellen Note und verkörpert so den Tänzer als eine eigenständige Persönlichkeit.
– Die Raumüberquerung darf aus tänzerischer Sicht nicht rein physikalisch oder mathematisch betrachtet werden. Dies ist mehr ein psychologisches und emotionales Gitter, welches auf der körperlichen Bewegungserfahrung und geistigen Reife basiert.(2) Es gilt also, nicht nur von A nach B zu kommen, sondern sich das Wie und Warum vor dem inneren Auge vorzustellen und dann zu verkörpern.
Fazit
Im zusammenfassenden Überblick kann man festhalten, dass das Erlernen des tänzerischen Berufes ein langwieriger Prozess ist, der bereits im Kindesalter (genauso wie bei einem Profi-Fußballspieler) anfängt und der von der persönlichen Entwicklung jedes einzelnen Individuums abhängt. Nicht nur das alleinige Beherrschen der Tanztechnik, sondern eine offene Persönlichkeit mit einem starken Selbstwertgefühl machen das kreative Handeln möglich. „Die bewusste und reflektierende Auseinandersetzung mit dem Körper und der Bewegung bildet einen künstlerisch-kreativ agierenden Tänzer heran, welcher sich nicht nur den technischen Anforderungen im Berufsleben besser gewachsen fühlt, sondern der auch umfassender auf die prozessorientierte Arbeit der heutigen Choreografen vorbereitet ist“ (3, S. 51). Die künstlerische Persönlichkeit sollte damit in der Lage sein, eine geheimnisvolle Aura auszustrahlen und den Zuschauer bereits allein dadurch magisch verzaubern zu können. Durch die innere Musikalität, die Passion und die Liebe zur Berufung, den Körper als ein Ausdrucksorgan nutzen zu dürfen, wird nicht nur dem Außenstehenden, sondern auch sich selbst ein Vergnügen höchsten Maßes gegönnt.
Marina Lewun
Literatur
1. Fritsch, U. (1984). Chancengleichheit in körperlicher Präsenz, Nachdenken über den Tanz im Sportzeitalter. In: Klein, M. (1984). Sport und Körper. Reinbeck bei Hamburg: Rohwolt Verlag GmbH
2. Laban, R. (2003). Espace dynamique. Bruxelles: Contredanse
3. Schäfer-Jenk, G. (2004). Vermittlung klassischer Tanztechnik heute. Unveröffentlichte Examensarbeit, Nachdiplomstudium TanzKultur, Universität Bern