Überstrecken des Kniegelenks: Alle Gewebe brauchen Beanspruchung, um gesund zu bleiben oder zu werden. Obwohl wir das wissen, tun wir aus Angst, zu viel zu tun, häufig eher zu wenig. Ein typisches Beispiel ist das Überstrecken der Knie. In der Welt des Yogas z.b. geben Lehrer ihren Schülern oft die Empfehlung oder fordern sie auf, die Knie vor allem in Standhaltungen nicht zu überstrecken.
Knie nach hinten durchgedrückt: Das Risiko eines geschwächten Knies
Diese Anweisungen sind gut gemeint. Bei manchen Menschen kann ein überstrecktes Knie tatsächlich Schaden nehmen. Doch in der Absicht, keinen Schaden anzurichten, können Lehrer unter Umständen Voraussetzungen schaffen, bei denen gesunde und bei Überstrecken nicht gefährdete Knie nicht ausreichend beansprucht werden, um gesund zu bleiben. Aus Angst, zu viel zu tun, tun manche Lehrer zu wenig. Wir riskieren, dass wir die Knie schwächen.
Das Überstrecken der Knie ist normal und natürlich. Die Durchschnittsperson kann die Knie 5° bis 6° überstrecken (siehe Abb. 2.125).
Wenn man das Knie streckt, wird das Bein gerade. Wenn es eine Linie mit dem Oberschenkel bildet, gilt das Bein als gestreckt. Aber fast jeder kann diese magische 180°Grenze überschreiten, was als Überstrecken (Hyperextension) bezeichnet wird.
Die Überstreckung im Knie kann stark variieren
Wie sehr die Menschen überstrecken, kann stark variieren. In einer Studie überstreckten 99 Prozent der Frauen um durchschnittlich 6,7° (mit einer Standardabweichung von 2,7° und einer Variationsbreite von 0° bis 17°) und 95 Prozent der Männer um durchschnittlich 5,5° (mit einer Standardabweichung von 2,5° und einer Variationsbreite von 0° bis 17,5°).
Mehr als 5° Überstreckung werden auch Hohlknie (Genu recurvatum,227 lateinisch für »zurückgebeugtes Knie«) genannt. Demnach haben die meisten Menschen Hohlknie.
Die Forscher sind recht geteilter Meinung, ob das Überstrecken des Knies die Verletzungsanfälligkeit erhöht. Obwohl die Literatur und die Yogawelt zu der Schlussfolgerung gelangt sind, eine 180°Streckung des Knies sei ideal, müssen menschliche Zweifüßer ein leichtes Überstrecken der Knie zulassen.
Der Aufwand muskulärer Energie im Kniegelenk während des Stehens
Wenn wir im Stehen »die Knie durchdrücken« und »in den Bändern hängen«, reduzieren wir den Aufwand an muskulärer Energie. Die Haltung wird eher von den Bändern als vom Quadrizeps gestützt. Das ist evolutionsbedingt. Schimpansen brauchen zum Gehen mehr Energie als der Mensch, weil ihre Knie ständig gebeugt bleiben müssen.
Der Mensch kann das Knie vollständig strecken, und das spart Kalorien. Beim Gehen überstrecken wir um ungefähr 5°, was – wenig überraschend – den meisten Menschen gelingt. Wenn wir die Knie beim Stehen oder Gehen nicht leicht überstrecken würden, müsste der Quadrizeps ständig arbeiten, um unsere Haltung zu stabilisieren. Das wäre ermüdend und könnte den Muskel chronisch verkürzen.
Aber man kann alles übertreiben. Wer den ganzen Tag sitzt und damit die Beinmuskulatur schwächt, überstreckt die Knie beim Stehen vielleicht zu sehr. Es kann tatsächlich besser sein, wenn diese Menschen die Knie in den Yogahaltungen leicht anbeugen und die Beinmuskulatur kräftigen. All dies soll zeigen, dass ein gewisses Maß an Überstreckung normal und nützlich ist.
Die Folgen ungesunder Bewegungsmuster im Knie
Wenn wir das Knie nach einer Verletzung nicht mehr wie gewohnt überstrecken können, wird es sich eingeschränkt und steif anfühlen. Vielleicht entwickeln wir auch ungesunde Bewegungsmuster, um den geringeren Bewegungsumfang zu kompensieren. Die Wiederherstellung des vollen Bewegungsumfangs einschließlich der Überstreckung verhindert Arthrofibose (ungewöhnlich dickes Narbengewebe) und Knieschmerzen nach einer Operation.
Eine Überstreckung von 5° bis 7° ist für eine volle Funktionalität wichtig. Es gibt zwei Arten von Überstreckung im Kniegelenk: die akute und die chronische Überstreckung. Beim akuten Überstrecken wird das Knie durch eine plötzliche Gewalteinwirkung oder Bewegung nach hinten gedrückt. Infolge von Knieverletzungen kommt am häufigsten das vordere Kreuzband (Ligamentum cruciatum anterius) zu Schaden, und oft ist eine plötzliche Beanspruchung des überstreckten Knies die Ursache, zum Beispiel durch eine Kontaktverletzung im Sport.
Wodurch entstehen die häufigsten Verletzungen im Knie?
Am häufigsten aber verletzen wir uns, wenn wir beim Laufen plötzlich stoppen – und dabei auch noch die Richtung wechseln – oder wenn wir beim Springen mit gestreckten Beinen landen. Das Landen nach einem Sprung sowie Richtungswechsel beim Laufen sind die häufigsten Verletzungsursachen.
Leider ist bei Frauen die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des vorderen Kreuzbands zwei bis achtmal so hoch wie bei Männern, und am häufigsten passiert es bei der Landung nach einem Sprung. Frauen spannen meist zuerst den Quadrizeps an, wenn sie aufkommen, Männer dagegen die hinteren Oberschenkelmuskeln.
Das ist eine Frage der Geometrie. (Kleinere Menschen haben kürzere Oberschenkel und deshalb größere QWinkel und kleinere Schienbeinplateaus, auf die sich die Last verteilt.) Das übermäßige Überstrecken des Knies unter Last erhöht das Verletzungsrisiko für das vordere Kreuzband; eine zusätzliche Drehung lässt es weiter ansteigen.
Es mag überraschen, dass Kreuzbandverletzungen beim Turnen viel seltener vorkommen als bei Skilauf, Handball, Fußball, Basketball und Kontaktsportarten.
Die Belastung des Knies beim Yoga
Zum Glück setzen wir das Knie in der Asanapraxis keiner plötzlichen Überstreckungsbeanspruchung aus, indem wir die Bewegungsrichtung ändern. Die Sorge gilt eher der zweiten Form des Überstreckens: dem chronisch überstreckten Knie. In einigen Standhaltungen wie Dreieck (Trikonasana), Tänzer (Natarajasana), Baum (Vrksasana) oder Halbmond (Ardhachandrasana) ist ein Bein vollständig gestreckt und trägt beinahe das gesamte Körpergewicht.
Abbildung 2.129 zeigt Tänzer und Halbmond. Auf Fotografien wies B. K. S. Iyengar eine durchschnittliche Überstreckung von 5° bis 7° im Standbeinknie auf. Da so gut wie jeder im Stehen das Knie überstrecken kann, ist dies bei den meisten Yogapraktizierenden auch in den Asanas zu erwarten.
Die Frage lautet: Sollte das so sein? Statisches Überstrecken des Knies kann die Spannung im vorderen Kreuzband und den stützenden Strukturen an der Knierückseite erhöhen.
Die Belastung des Kreuzbands
Anders als beim Ellbogen wird die weitere Bewegung nach posterior nicht von Knochen an der Knierückseite gebremst. Das müssen Bänder, Gelenkkapsel und Sehnen übernehmen. Das vordere Kreuzband absorbiert ungefähr 85 Prozent der Beanspruchung.
Zur Erinnerung: Das vordere Kreuzband verhindert, dass sich der Oberschenkelknochen über dem Schienbein nach hinten schiebt; das hintere Kreuzband (Ligamentum cruciatum posterius) verhindert, dass sich das Schienbein unter dem Oberschenkelknochen nach hinten schiebt. Je stärker die Überstreckung, desto größer die Spannung in den Kreuzbändern.
Ein gesundes vorderes Kreuzband hält einer Kraft von 2000 N (450 Poundforce) stand, das hintere Kreuzband hält doppelt so viel aus. Beim Überstrecken ist die Spannung im vorderen Kreuzband höher, deshalb gilt ihm die Hauptsorge. Bei einer passiven Überstreckung von 5° wirken durchschnittlich 118 N (26,5 Poundforce) auf das vordere Kreuzband – ein Wert, der deutlich innerhalb der Toleranzgrenzen liegt.
Die Ursachen des übermäßigen Überstreckens im Knie
Für den meisten Menschen ist ein solches Maß an Überstreckung nicht bedenklich, aber für manche möglicherweise doch. Übermäßiges Überstrecken kann viele Ursachen haben: neurologische Unterschiede, Muskelschwäche, Bandlaxität oder eine Verletzung.
Eine starke Quadrizepsaktivierung kann das Knie überstrecken. Aber auch Quadrizepsmuskeln, die zu schwach sind, um es zu stabilisieren, können eine Kompensation durch Überstrecken bewirken, damit die Bänder an ihrer Stelle für Stabilität sorgen.
Angeborene Muskelschwäche
Aus diesem Grund verlassen sich Menschen mit einer angeborenen Muskelschwäche, etwa infolge einer Zerebralparese, oder Muskelschwund oder aber nach einem Schlaganfall häufig auf das Überstrecken, um das Knie zu stabilisieren.
Allerdings kann das Gelenk dadurch im Lauf der Zeit hypermobil werden. Schülern mit beschädigten oder geschwächten Bändern, Menschen mit einer über das normale Maß (also >10°) hinausgehenden Überstreckung, älteren Menschen mit naturgemäß schwächeren vorderen Kreuzbändern oder allen, die von einer Knieoperation genesen, kann man durchaus empfehlen, die beim Überstrecken auftretende Beanspruchung der vorderen Kreuzbänder zu reduzieren. Überforderung kann schädlich sein, aber auch die Unterforderung ist gefährlich. »Wie sich gezeigt hat, wirkt sich die fehlende Beanspruchung der Bänder, sogar der unverletzten, schädlich aus.«
Das vordere Kreuzband braucht eine gewisse Beanspruchung. Das Stehen mit überstreckten Knien bietet eine recht gemäßigte Form der Beanspruchung, wenn man es mit Treppensteigen oder Laufen vergleicht. Für die meisten Yogis dürfte das Überstrecken des Knies unproblematisch, bei manchen kann es jedoch kritisch sein. Dennoch ist es vielleicht keine gute Idee, überstreckte Knie grundsätzlich zu korrigieren, denn – wie erwähnt – wir müssen das vordere Kreuzband beanspruchen, um es gesund zu erhalten.
Autor: Bernie Clark – DEIN KÖRPER DEIN YOGA
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Überstrecken des Kniegelenks: Quellen
- Lan Chen, Paul D. Kim, Christopher S. Ahmad und William N. Levine: »Medial Collateral Ligament Injuries of the Knee: Current Treatment Concepts«, in: Current Reviews in Muscoskeletal Medicine 1.2 (2008), S. 108–113
- S. E. Park et al.: »The Change in Length of the Medial and Lateral Collateral Ligaments during In Vivo Knee Flexion«
- De Carlo und Sell: »Normative Data«
- J. K. Loudon, H. L. Goist und K. L. Loudon: »Genu Recurvatum Syndrome«, in: Journal of Orthopaedic and Sports Physical Therapy 27.5 (1998), S. 361–367
- Es gibt Unterschiede in der Literatur, ab wann das überstreckte Knie als Genu recurvatum einzustufen ist. Die Werte reichen von 0° bis 10° Überstreckung.
- Ramesh et al.: »The Risk of Anterior Cruciate Ligament Rupture«
- Lieberman: Unser Körper, S. 60–61
- Für das Gehen auf ebener Fläche müssen wir das Knie 2° bis 7° überstrecken können; siehe Reese und Bandy: Joint Range of Motion and Muscle Length Testing, S. 333.
- De Carlo und Sell: »Normative Data«
- K. D. Shelbourne, D. V. Patel und D. J. Martini: »Classification and Management of Arthrofibrosis of the Knee Following ACL Reconstruction «, in: American Journal of Sports Medicine 24 (1996), S. 857–862; K. D. Shelbourne und R. V. Trumper: »Preventing Anterior Knee Pain Following ACL Reconstruction«, in: American Journal of Sports Medicine 25 (1997), S. 41–47
Überstrecken des Kniegelenks: Weitere Quellen
- Ramesh et al.: »The Risk of Anterior Cruciate Ligament Rupture«
- Yohei Shimokochi und Sandra J. Shultz: »Mechanisms of Noncontact Anterior Cruciate Ligament Injury«, in: Journal of Athletic Training 43.4 (2008), S. 396–408
- Hewett et al.: »Anterior Cruciate Ligament Injuries in Female Athletes« sowie Boden et al.: »Noncontact Anterior Cruciate Ligament Injuries«
- Siehe T. E. Hewett, K. R. Ford, B. J. Hoogenboom und B. G. Myer: »Understanding and Preventing ACL Injuries: Current Biomechanical and Epidemiologic Considerations – Update 2010«, in: North American Journal of Sports Physical Therapy 5.4 (2010), S. 234–251
- Shimokochi und Shultz: »Mechanisms of Noncontact Anterior Cruciate Ligament Injury«
- Siehe T. E. Hewett, S. J. Shultz und L. Y. Griffin (Hrsg.): Understanding and Preventing Noncontact ACL Injuries. Champaign, IL: Human Kinetics 2007, S. 25
- Loudun et al.: »Genu Recurvatum Syndrome«
- Escamilla et al.: »Effects of Technique Variations«
- S. L. Woo, J. M. Hollis, D. J. Adams, R. M. Lyon und S. Takai:»Tensile Properties of the Human Femur-Anterior Cruciate Ligament-Tibia Complex. The Effects of Specimen Age and Orientation «, in: American Journal of Sports Medicine 19.3 (1991), S. 217–225
- Escamilla et al.: »Effects of Technique Variations«
- Markolf et al.: »Direct Measurement of Resultant Forces«
- Loudon et al: »Genu Recurvatum Syndrome«
- In Anbetracht der oben zitierten Angaben zur durchschnittlichen Überstreckung bei Männern (5,5° mit einer Standardabweichung von 2,5°) beträgt die 95-Prozent-»Norm« 10,5° oder weniger (verglichen mit 12,1° bei Frauen).
- Im Alter verliert das vordere Kreuzband erheblich an Kraft; siehe Woo et al.: »Tensile Properties«