Es ist soweit: Wettkampftag. Sekunden vor dem Startsignal. Sie haben intensiv dafür trainiert, um in Ihrer Laufdisziplin heute ganz vorne mit dabei zu sein. Sie sind hochkonzentriert. Ihr Geist, Ihr ganzer Körper, jede einzelne Ihrer Muskelfasern befinden sich in gespannter Erwartungshaltung…
Niemand würde auf den Gedanken kommen, dass in der beschriebenen Situation ein Zustand der Tiefenentspannung oder Langeweile sinnvoll wäre, damit der Sportler seine Bestleistung abrufen kann! Dafür ist ein bestimmtes Maß an Aktivierung und Erregung schon erforderlich. Ebenso kennt man bei Künstlern das so genannte „Lampenfieber“, das ihnen hilft, eine Topp-Performance auf die Bühne zu bringen.
Damit derartige Leistungen überhaupt möglich sind, hat die Natur einen genialen Mechanismus entwickelt.
Die evolutionäre Stress-Reaktion
Die Evolution hat mit ihrer Erfindung der „Stress-Reaktion“ einen „Geniestreich“ gelandet, der den damit ausgestatteten Lebewesen einen wichtigen Überlebensvorteil bescherte. Dieser Stressreaktionsmechanismus versetzte ein Lebewesen blitzartig in Alarmbereitschaft, wenn irgendetwas in seiner Umgebung auf eine Bedrohung oder Gefahr hindeutete. Der ganze Organismus wurde umgehend vom Normalzustand in einen Alarmzustand versetzt, um der drohenden Gefahr durch Angriff oder Flucht begegnen zu können. Dieser Alarmzustand geht einher mit einer notwendigen Einstellung des gesamten Organismus auf Aktivität und Leistung.
Belastung und Erholung
Die evolutionäre Stressreaktion wurde jedoch als „Kurzprogramm“ entwickelt. In der Annahme, dass eine Belastungssituation schnell entsteht, und auch schnell wieder bereinigt ist! Im Stressgeschehen ist es demnach wichtig, dass der Körper einerseits schnell auf Belastung und Leistung eingestellt werden kann, sich andererseits schnell wieder vom Stress erholen kann. Dabei hilft dem Organismus insbesondere das so genannte „vegetative Nervensystem“. Es besteht aus den beiden Anteilen Sympathikus und Parasympathikus. Wie Gas und Bremse haben diese auf den Organismus entgegen gesetzte Wirkungen. Der Sympathikus dient mehr der Einstellung des Körpers auf Aktivität und Leistung. Der Parasympathikus stellt den Körper dagegen wieder auf Erholung ein.
Am Wirkungsmechanismus des vegetativen Nervensystems wird bereits deutlich, dass der Organismus auf Balance angewiesen ist. Er darf weder permanent auf Hochtouren laufen noch ständig ruhen. Jeder Sportler kennt dieses Phänomen aus dem Kontext der Sport- und Trainingswissenschaften im Zusammenhang mit dem Trainingsprinzip der „optimalen Relation von Belastung und Erholung“. Belastungsreize, also „Stress-Reize“, dürfen nur eine ganz bestimmte Quantität und Qualität haben, um die Leistungsentwicklung optimal zu fördern. Belastung und Erholung müssen dabei in einem individuell angemessenen und ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen, damit „Superkompensation“ überhaupt stattfinden kann und damit Leistungssteigerung möglich ist!
Damit dürfte klar sein, dass die Stressreaktion, die den Körper des Sportlers auf eine gegebene Belastung akut und situationsgerecht einstellt, nur von begrenzter Dauer sein darf. Ein chronischer Stresszustand hat auf Leistungsfähigkeit und Gesundheit dagegen zumeist negativen Einfluss. Die Natur hat deshalb die Stressreaktion wie gesagt als ein „Kurzprogramm“ entwickelt, das einen bestimmten Phasenverlauf aufweist:
Der Phasenverlauf im Stressgeschehen
1. Wahrnehmung der Stresssituation
Über die Sinnessysteme wird ein bestimmter Reiz wahrgenommen. Die konkrete Situation wird als relevant und bedrohlich interpretiert.
2. Alarmbereitschaft/Aktivierung
Blitzschnell wird der gesamte Organismus über die verschiedenen Strukturen des Nervensystems (zum Beispiel Sympathikus) und Hormonsystems (zum Beispiel Adrenalin/Noradrenalin) in Alarmbereitschaft versetzt und aktiviert.
3. Kampf oder Flucht
Ziel dieser Aktivierung ist die organische Bereitschaft, die Stresssituation durch Kampf oder Flucht zu bereinigen. Alle motorischen Abläufe gelingen in diesem Aktivierungsmodus sehr viel besser als im neutraleren Normalzustand. Diese Aktivierungsprozesse halten solange an, wie die Stresssituation besteht. (Lesen Sie dazu auch: Im Auge des Säbelzahntigers: Flucht oder Angriff!)
4. Erholungsphase
Nach erfolgter Kampf- oder Flucht-Reaktion über die körperliche Aktivität kann und muss sich der Organismus wieder erholen und regenerieren. Hierbei spielt der Parasympathikus eine zentrale Rolle. Der Organismus kommt zurück zur Ruhe und tankt seine Energiereserven wieder auf. Denn früher oder später muss er wieder voll einsatzfähig und leistungsbereit sein für die nächste Stresssituation! Der Phasenverlauf des Stressgeschehens beginnt dann von neuem…
Erfolgt keine hinreichende Erholung von der Belastung, kann das auf Dauer zur Überforderung und schließlich sogar zur Erschöpfung führen.
Jörg Schönenberg