Leistungsorientierte Kletterer und Boulderer suchen immer wieder nach effektiven und zielführenden Trainingsinhalten. Längst sind begleitende Übungen abseits der Kletterwand fester Bestandteil von Trainingseinheiten mit leistungsmotiviertem Fokus.
Neuroathletik im Klettertraining: Prozesse in der Bewegungssteuerung
Equipment wie Sling-Trainer, Kettlebells, Kurzhantel oder Übungen auf der Matte gehören zum Repertoire eines modernen Kletterers dazu. Dieser Athletikbereich öffnet eine riesige Welt, in der viel Potential und sportliche Entwicklung steckt. Um sich in diesen Weiten nicht zu verirren, gibt dieser Artikel Einsichten in einen der wichtigsten Prozesse eines kletterspezifischen Athletiktrainings – das Neuroathletik-Training.
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Die sogenannte Neuroathletik umfasst zentrale Prozesse in der Bewegungssteuerung und ist somit essentiell für motorische Leistungsfähigkeit. Vor allem Sportarten mit einer großen Bewegungsvariation und einer großen Belastungsbreite wie das Klettern profitieren von der hohen Neuroaktivität, also dem Zusammenspiel zwischen Gehirn und Muskel. Aber alles der Reihe nach, wir klären zuvor ein paar Begriff und Fakten, um voll in das Thema einsteigen zu können.
Was ist eine motorische Einheit?
Die motorische Einheit besteht aus drei Bereichen – Gehirn, Nervensystem und Muskulatur. Aber wie passen diese Strukturen zusammen? Wir haben ca. 640 Muskeln, die wir durch Trainingsreize im Klettertraining mehr oder weniger an Belastung anpassen lassen und sie somit schneller, größer, ausdauernder, … machen können.
Doch gleichzeitig müssen wir uns vor Augen führen, dass unsere Muskeln keine Eigendynamik haben. Es würde sich kein einziger dieser vielen Muskeln bewegen, wenn er dazu nicht von einer passenden Planungszentrale den Auftrag dazu bekommt. Bestimmte Bereiche im Gehirn übernehmen die Planungsaufgabe für unsere Muskeln und entscheiden, wann welche Muskeln in welcher Geschwindigkeit und Reihenfolge zueinander arbeiten, damit aus der Summe der einzelnen Muskelaktionen eine gewollte und kontrollierte Bewegung entsteht – wie beispielsweise ein dynamischer Zug aus hochgestellten Beinen hoch zu einem großen Henkel im Überhang. Die unkoordinierten Bewegungen bei übermäßigem Alkoholkonsum resultieren genau aus dieser alkoholbedingten gestörten Planungsarbeit im Gehirn.
Das Zusammenspiel von Gehirn, Nervensystem und Muskulatur beim Klettersport
Doch selbst, wenn unser Gehirn fehlerfrei, zu 100% ökonomisch und präzise einen passenden Bewegungsplan geschmiedet hat und wir eine optimal vorbereitete Muskulatur besitzen, die diese Idee perfekt in Bewegung umsetzen könnte, würde nichts passieren, wenn diese im Gehirn entstandene Aufgabe nicht schnell und ohne Informationsverlust über den passenden Kanal den richtigen Muskel erreicht.
Diese Datenübertragung übernimmt unser Nervensystem. Und so bringen wir im motorischen Sinne alle drei Bereiche funktionell zusammen – das Gehirn als Planungszentrale, das Nervensystem als Datenautobahn und den Muskel aus ausführendes Organ. Wenn wir mehr als nur Muskelwachstum im ästhetische Sinn aus unserem Training ziehen und besser leistungsfähige Funktionen trainieren wollen, müssen wir unser Training auf dieses Zusammenspiel der motorischen Einheit ausrichten.
Externe und interne Informationen beim Klettertraining
Wenn wir nun losgelöst von einfachen Muskelbewegungen uns in die Arbeitsweise der motorischen Einheit hineindenken, wird klar, dass diese drei Bereiche nicht parallel nebeneinander existieren, sondern sich gegenseitig bedingen. Sie unterliegen einer zeitlichen Organisation. Bei einem statischen Kreuzzug sammelt das Gehirn so viele interne und externe Informationen, wie es bekommen kann:
– Wie weit ist der Zug (Hebel, Last)?
– Wie ist der Zielgriff beschaffen (Antizipation)?
– Habe ich einen soliden Stand (Ist-Zustand)?
– Wie viele Zuschauer sehen mit zu – könnte ich mich blamieren (soziales Umfeld)?
– Wie ist der Sturzraum, wenn ich den Zug nicht schaffen sollte (Alternativen)?
All dies sind externe Informationen!
Zu den internen Informationen zählen diese Gedanken
– Wie ermüdet bin ich bereits (Feedback)?
– Habe ich so einen Zug bereits schon mal gemacht und war die damalige Strategie erfolgreich (Erinnerungen)?
– Wenn ich stürze, komme ich dann vielleicht zuerst mit der Schulter auf – und kann ich dann praktische Prüfung meiner Ausbildung in ein paar Tagen noch absolvieren (Angst)?
– Wie viel Motivation kann ich derzeit aufbringen, um diesen harten Zug wirklich mit letzter Konsequenz anzugehen (Wille)?
– Gestern noch hat das Knie gezwickt – soll ich also kraftvoll aus den Beinen oder doch über einen aktiven Oberkörperzug starten (Ist-Zustand, Alternativen)?
Aus all den Informationen ergibt sich eine Situation, die unsere Lösungsstrategiefindung startet. Welche Muskeln, bzw. Muskelkette können im passenden Zusammenspiel dieses eine Bewegungsproblem beim Bouldern oder Klettern potentiell lösen? Hierbei zählt: Wie gut kann unser Körper auf die Muskeln und deren Leistungsfähigkeit grundlegend zugreifen? Diese Datenaufnahme, – verarbeitung, –interpretation und die Planung der muskulären Antwort sind Kernthemen der Neuroathletik.
Neuroathletik und intermuskuläre Koordination beim Bouldern und Klettern
Noch so ein komplizierter Begriff – nein, intermuskuläre Koordination erklärt sich eigentlich von allein. Wir kennen im Training Übungen, die sehr isoliert einzelne Muskeln ansprechen. Der Bizepscurl bei unterlagertem Oberarm beansprucht in dieser Ausführung hochgradig und fast isoliert den Bizeps. Je komplexer eine Übung ist, desto mehr Muskeln sind gleichzeitig oder kurz nacheinander getimed aktiv.
Der Liegestütz ist als Übung schon etwas komplexer als der isolierte Bizepscurl, da hierbei Ellbogen- und Schultermobilität zu Rumpf- und Beckenstabilität zueinander über viele Muskeln passend organisiert werden muss. Dieses Zusammenspiel von verschiedenen Muskeln innerhalb einer Übungs- oder Bewegungsaktion nennt man intermuskuläre Koordination. Der Liegestütz im Sling ist noch eine Stufe komplexer, da die motorische Einheit – obwohl die Intensität des eigenen Körpergewichts gleich bleibt – durch die Instabilität noch mehr gefordert wird.
Betrachten wir die intermuskuläre Koordination beim Klettern und Bouldern, so zeigt sich damit die Sportart mit den längsten aktiven Muskelketten – von den Fingerspitzen bis zum vordersten Zehenglied. Die Kletterleistung ist daher von zwei Faktoren abhängig: Wie stark sind meine Einzelkettenglieder und wie gut kann ich sie in einer enorm langen und zueinander abhängigen Muskelkette leistungsstark kombinieren.
Gründe für eine verringerte Leistungsfähigkeit
Wenn die Kraftentwicklung in einer Bewegungen die Summe aus vielen Einzelaktionen sind, dann wäre es denkbar, dass diese hinsichtlich der Leistungsfähigkeit in Verbindung stehen. Selbstverständlich – die Antwort hierzu liefert uns die Biomechanik. Die Muskeln, die mittels intermuskulärer Koordination zueinander aktiv sind, starten zeitlich organisiert zu einem festen Bezugspunkt, wovon die erste Kraftrekrutierung ausgeht.
Das bedeutet, dass ein Speerwerfer nur deshalb mit enormer Wucht sein Wurfgeschoss aus der Schulter schleudern kann, weil er kurz zuvor durch einen festen Stemmschritt viel Kraft in den Boden gestampft hat. Der Boden ist in diesem Fall unser fester Bezugspunkt, wovon sich eine Kraftkette (sogenannte kinetische Kette) bis hoch zur Hand mit dem Speer entwickelt. Das Bild (1) zeigt einen optimalen Verlauf einer aufbauenden kinetischen Kette.
Man sieht, dass die Kraftkurvenentwicklung der einzelnen Glieder zeitlich passend jeweils auf dem Peak der vorherigen Kurve beginnt und im Aufbau gleichmäßig hohe Kurven entstehen. Die rote gestrichelte Linie zeigt die hohe Kraftentwicklung, die aus der Summe aller Kurvenpeaks vom Boden bis zur Hand. Bild (2) zeigt mit der grün gestrichelten Linie eine geringere Gesamtkraftentwicklung wie in Bild (1) mit der roten Linie.
Vergleicht man die einzelnen Kurvenverläufe, sieht man, dass das koordinative Timing passt, aber dass der Kraftpeak im Rumpf deutlich geringer ist, als bei Verlauf (1). Der Grund hierbei ist ein schwächeres Kettenglied – ein muskuläres Defizit, welches isoliert entwickelt und sich folgend wieder in entsprechende Muskelketten koordinativ integriert werden muss.
Neben einem muskulären Defizit kann aber eine kinetische Kette auch aufgrund mangelhaften Timing Leistung einbüßen. Verlauf (3) zeigt uns eine aufbauende Muskelkette, die in ihren einzelnen Kraftpeaks konstant ist. Dennoch erkennen wir eine der roten Linie tiefer gelegene grüne Linie, die uns einen Kraftverlust aufzeigt. Der Grund hierzu ist in diesem Fall, dass die aufbauenden Einzelaktionen nicht zeitlich korrekt auf dem vorhergehenden Kraftpeak starten. Die nächste Aktion startet in der bereits abfallenden Kraftrekrutierung der vorherigen. Aufgrund der mangelhaften intermuskulären Koordination werden hierbei Möglichkeiten verspielt. Neuroathletische Trainingsinhalte können hier das muskuläre Potential zum Tragen bringen.
Fazit für das Klettertraining
Lasst uns diese zwei großen Erkenntnisse aus diesem Artikel zusammen bringen. Auf der einen Seite betreiben wir Klettern und Bouldern als Sportart, die hohe muskuläre, aber eben auch hohe koordinative Ansprüche an den Athleten stellt. Es ist die Sportart mit den längsten Muskelketten, die dazu noch eine enorme Bandbreite an Belastungs- und Bewegungsvariation mit sich bringt – muskulär und neuronal. Von hohen Kompetenzen aus der Kombination beider Bereiche profitiert jeder Kletterer und Boulderer.
Auf der anderen Seite haben wir in der Interaktion von Muskeln in einer kinetischen Kette erkennen dürfen, dass ein funktionelles Kraftdefizit eben nicht nur rein muskuläre, sondern auch koordinativ fehlerhafte Ansteuerungsprobleme haben kann. Wollen wir intermuskuläre Koordinationsdefizite über muskuläre Kraftfähigkeiten kompensieren, bringen wir unseren Körper in Trainingsbelastungen, die hochgradig die Verletzungs- und Überlastungsanfälligkeit erhöhen. Dies ist ein Bereich, in dem sich kein Sportler aufhalten sollte.
In der Praxis nutzen wir aber Campusboard, Steckbrett, Slings, Ringe, … fast ausschließlich nur für muskuläre Inhalte. Neuroathletische Ansteuerungsinhalte werden meist nie integriert. Somit bleiben sowohl leistungs-, wie auch gesundheitsrelevante Aspekte auf der Strecke. Es liegt auf der Hand, dass genau das der Grund ist, warum wir im leistungsorientierten Breiten- und Spitzensport so viele Trainingsverletzte verzeichnen können. Damit sind vor allem all die Athletinnen und Athleten gemeint, die sich nicht durch einen Sturz oder ähnlichem sich verletzen, sondern trainingsbedingte Schmerzen und Fehlbelastungen zu lästigen Trainingspausen führen.
Als Trainer im Bereich leistungsorientiertem Athletiktraining raten wir Klettersportler stets zu sinnvollen Übungen mit zielführenden Muskelreizen, vermitteln jedoch gleichzeitig, dass sportliche Funktion nur mit der notwendigen neuroathletischen Komponente ausgespielt werden kann. Du glaubst, dass du aus dem Klettertraining nur etwas mitnehmen kannst, wenn du ausgelastet und durchgeschwitzt bist? Der neuroathletische Trainingsansatz in der Kletterathletik beweist dir das Gegenteil.
Autor: Bernd Bachfischer
Wenn wir Klettern als Sport wahrnehmen wollen, müssen wir anfangen, es als Sport zu behandeln.
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9 von 10 Kletterern machen die gleichen Fehler
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