Vorsicht bei vereinfachenden Trainingsprinzipien

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Im Sport und in der Medizin werden oft physikalische Erklärungsmuster herangezogen, um biologische oder physiologische Phänomene zu beschreiben. Dabei soll anhand von bestimmten Modellen die Funktionalität von Körpersystemen vereinfacht dargestellt werden. Man versucht so beispielsweise, die biologische Regelung des Wasserkreislaufs anhand einer Toilettenspülung zu erklären.

Dieser Vergleich wird noch in vielen Lehrbüchern der Physiologie verwendet.(1) Mit ähnlichen Begriffen aus der Regelung und Steuerung von Maschinen wird oft dann gearbeitet, wenn es sich um die Beschreibung physiologischer Abläufe handelt. In diesen Zusammenhängen geht man davon aus, dass die biologischen „Maschinen“ denselben Prinzipien wie ein Automat folgen.  Messfühler und „Effektoren“ sollen die Abweichung von Sollwerten verhindern. Es wird also angenommen, dass die physiologischen Abläufe im Körper ähnlich wie mechanische Regelsysteme organisiert sind. Dieses Grundverständnis findet sich auch in der Sportpraxis und der Sportwissenschaft. Auf dieser Basis wird mit dem Superkompensationsmodell versucht, das Training und die Anpassungen daran zu erklären. Dennis Sandig und Sebastian Mühlenhoff beschreiben Ihnen die Tücken, die ein solches Verständnis haben kann. Außerdem werden Ihnen Ideen für ein offeneres Trainingsverständnis vorgestellt, auf dessen Basis Sie Ihr Training variabler gestalten können.

Physikalische Modelle zum Trainieren

Die messbaren Regulationsprozesse haben durchweg eine biologische Basis. Dazu gehört der Blutdruck ebenso wie die Regulation des Flüssigkeitshaushalts. Auf diese Vorgänge hat der Mensch keinen willentlichen Zugriff.(2) Trotzdem lassen sich diese Prozesse beeinflussen, es gibt im menschlichen Körper keinen festen oder konstanten Zustand. Die Regulationsprozesse sind Formen des Lebendigen die nicht nur „sind“, sondern „ geschehen“.(3) In diesem Kontext werden oft Zusammenhänge mit der Kybernetik hergestellt. Dazu gehört beispielsweise auch die Sichtweise von einem dynamischen Gleichgewicht im Zusammenhang mit der „Anpassungen“.

Das Modell der Superkompensation

Wesentliche Bestandteile des Modells der Superkompensation beruhen auf Forschungsarbeiten, die sich experimentell allein mit dem Glykogenstoffwechsel bei Ratten beschäftigten. Diese Untersuchungen fanden in den 70er-Jahren statt. Die Ergebnisse wurden auf den Trainingsprozess übertragen, um mit dem theoretischen Modell zur Superkompensation den Zusammenhang zwischen der Beanspruchung und der Trainingswirkung beschreiben und erklären zu können.(2) Die Anpassungsvorgänge an die Belastungsreize werden als Entwicklung gesehen, die nach den „Gesetzmäßigkeiten“ der Superkompensation abläuft. Infolge eines Trainingsreizes geht man im Allgemeinen davon aus, dass die Leistungsfähigkeit abnimmt. Im Rahmen der Wiederherstellung und Erholung soll ein im Vergleich zur Ausgangssituation erhöhter Leistungszustand erreicht werden. Die Leistungsfähigkeit hat sich so – bezogen auf den „Urzustand“ – verbessert.
Wenn Sie nun im Bereich der erhöhten Leistungsfähigkeit einen neuen Trainingsreiz setzen, soll zunächst wieder eine Absenkung stattfinden und – im Zusammenhang mit der Wiederherstellung des Gleichgewichts – eine erhöhte Leistungsfähigkeit entstehen. Das Setzen eines Trainingsreizes zum richtigen Zeitpunkt soll mithilfe dieses Modells eine insgesamt ansteigende Leistungsfähigkeit erklären.
Auch negative Entwicklungen der Leistungsfähigkeit werden nach diesem Modell erklärt. In diesem Fall erfolgt die Reizsetzung in einer ungünstigen Phase. Das liege daran, dass die Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit noch nicht in ausreichendem Maße gegeben sei. Infolge der summierten Belastung und Beanspruchung im nicht erholten Zustand wird so keine erhöhte Leistungsfähigkeit erreicht. Stattdessen vermindert sich die Leistungsfähigkeit im Anschluss an den Trainingsreiz weiter.(2) Darum wird eine ausreichende Pausengestaltung zum Zweck der Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit empfohlen. Experimentell überprüft und als allgemeines Prinzip auf die Trainingslehre übertragen wurde dieses Modell von Nikolai Jakowlew (1977), dessen Werk so Berücksichtigung und Eingang in die allgemeine Trainingslehre fand.
Dem Prinzip der Superkompensation liegt die Vorstellung zugrunde, dass durch einen Trainingsreiz eine Störung im Gleichgewichtszustand (Homöostase) des Organismus erzeugt wird. Begründet wird das Absinken der Leistungsfähigkeit nach einem Trainingsreiz durch ein Ungleichgewicht in den Körpersystemen. Die menschlichen Funktionssysteme seien dann bestrebt, wieder ein neues Gleichgewicht herzustellen. Dieser Erklärungsansatz zum Anpassungsverlauf wird auf metabolische und auf morphologische Effekte und sogar auf die mögliche Adaptation im koordinativen Bereich übertragen. Diese stark idealisierte Vorstellung wird dabei oft unreflektiert als allgemein gültige Erklärung für die Anpassungsprozesse des Körpers benutzt. Unberücksichtigt bleibt dabei die Tatsache, dass weder die zugrunde liegende Originalquelle noch später durchgeführte empirische Untersuchungen diese Rückschlüsse zulassen. Dem menschlichen Körper wird in diesem Modell eine bewusste Reaktion unterstellt, denn es heißt, dass „die Struktur beim Wiederauftreten der Belastung vor einer neuerlichen übermäßigen Ausschöpfung ihrer Kapazität“ als Schutzprozess eine Erhöhung der Kapazitäten über das vorher bestehende Grundniveau hinaus anstrebe. Also wird die Annahme, dass das Training planbar und zielgerichtet ist, auf die Anpassungsreaktion des Körpers übertragen.

Wie sinnvoll ist ein solches Modell?

Dieses Modell erscheint insbesondere dank der einfachen Strukturierung und des logischen Zusammenhangs besonders vertrauenerweckend.(2) Es wurde daher seit seiner Veröffentlichung bei Jakowlew (1977) kontinuierlich auf sämtliche Teilbereiche des sportlichen Trainings übertragen. Neben physiologischen und morphologischen Effekten werden deren summierte Adaptionsprozesse ebenso mit diesem Modell beschrieben wie Aspekte der Ernährung und des Kohlenhydratstoffwechsels.
Grundsätzlich sind die Übertragungen des Modells auf Ihr Training als Sportler aber schwierig, denn empirisch basiert es allein auf Untersuchungen an Ratten.(4) Dabei wurden Veränderungen des Glykogenstoffwechsels gemessen und im Folgenden zur Modellbildung herangezogen.(2) Aussagen zu anderen physiologischen Teilbereichen sowie die Übertragung auf den hochkomplexen Trainingsprozess sollen Sicherheit gewährleisten, wofür die Einfachheit des Modells sowie die scheinbare Exaktheit und die klare Gewichtung bei der Planung des sportlichen Trainings spricht.(5)

Seien Sie kritisch

Die Darstellung der Superkompensation soll Ihnen verdeutlichen, dass der nächste Trainingsreiz möglichst am höchsten Punkt der Superkompensationsphase erfolgen sollte (siehe Abb. 1). Würden Sie allerdings das nächste Training zu früh oder zu spät ansetzten, würde Ihre Leistung stagnieren oder im schlimmsten Fall abnehmen. Diese einfache Modellierung ist auch zeitgleich das Problem: Die Komplexität der biochemischen Abläufe bei den verschiedenen Anpassungsprozesse ist immens. Die gegenseitige Beeinflussung der Abläufe kann zu einer Verschiebung der Regenerations- und Anpassungsprozesse führen.
In den grafischen und inhaltlichen Darstellungen zum Superkompensationsmodell wird oft der Eindruck erweckt, dass Sie als Sportler aus diesen eine exakte Trainingssteuerung bezüglich der Zeit ablesen könnten. Außerdem wird ein linearer Zusammenhang von Training, Erholung und Leistungsentwicklung suggeriert. Die vielen verschiedenen Faktoren, die Ihre körperliche Anpassung beeinflussen, werden so aber nicht berücksichtigt, ebenso wie die Tatsache, dass innerhalb einer Trainingsgruppe derselbe Trainingsreiz je andere Beanspruchungen zur Folge haben kann. Unterschiede im Trainingsgrad, im Geschlecht, in den konditionellen Voraussetzungen innerhalb einer Sportart oder auch genetische Dispositionen hinsichtlich der Muskelfaserverteilung oder der Sauerstoffaufnahme werden nicht beachtet. Grundsätzlich ist deshalb das Modell der Superkompensation nicht geeignet, um differenzierte Überlegungen zur sportlichen Leistung oder Leistungsentwicklung darzustellen – es vereinfacht zu stark! Die Variablen, die Ihr Training beeinflussen, schwingen teilweise chaotisch und beeinflussen sich gegenseitig. Dazu kommt, dass die Erholung nach einer Belastung asynchron über verschieden lange Zeiträume andauert. Zwar sind Ihre Energiespeicher relativ schnell wieder gefüllt, aber Ihre neuronalen Strukturen benötigen oft – beispielsweise nach einem Marathon – eine sehr lange Zeit, um wieder in den Normalzustand zu gelangen.
Auch wenn das Modell der Superkompensation noch immer als allgemein gültiger und grundlegender Erklärungsansatz gilt, aus dem eine Vielzahl von trainingsmethodischen Maßnahmen abgeleitet werden, werden zunehmend kritische Äußerungen laut.(5) Das gilt vor allem für die unkritische Übertragung dieser Modellbildung auf das sportliche Training.

Dennis Sandig M.A., Doktorand an der Universität des Saarlandes; iQ athletik GmbH

Sebastian Mühlenhoff M.A., Sportwissenschaftlicher Koordinator Hessischer Radfahrer Verband (HRV); iQ athletik GmbH

Quellenangaben
1. Zimmermann, M. (1997), Grundlagen physiologischer Regelungsprozesse, in: R.F. Schmidt und G. Thews (Hrsg.), Physiologie des Menschen, Berlin: Springer
2. Lange, H. (2007), Optimales Walking. Der Weg zu einem stimmigen Trainingskonzept und seine Anwendung in der Praxis, Balingen: Spitta Verlag GmbH & Co. KG
3. Condition (2002), Bd. 12, S. 22–25
4. Jakowlew (1977), Sportbiochemie, Barth: Leipzig
5. Leistungssport (2008), Bd. 38 (2), S. 21–26

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Über den Autor

Dennis Sandig

Dennis Sandig arbeitete als Sportwissenschaftler am Institut für Sportwissenschaften der Julius-Maximilians Universität in Würzburg. Aktuell ist er bei der Deutschen Triathlon Union als Wissenschaftskoordinator und Referent für Bildung zuständig, sowie für das umfassende Aus- und Fortbildungsprogramm für Coaches im Triathlon.

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